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Rundbrief August 2023

Das Ende des Klagelieds

Margarethe Randow-Tesch

Der Sänger Orpheus, so heißt es, bezauberte mit seinem überirdischen Gesang und Saitenspiel nicht nur die Herzen der Menschen, selbst wilde Tiere kamen, um sich lauschend zu seinen Füßen niederzulegen und die Bäume neigten andächtig ihre Wipfel. Als ihm seine geliebte Frau Eurydike durch einen tödlichen Schlangenbiss entrissen wurde, machte er sich verzweifelt auf die Suche nach ihr. Wider alle Gesetze gelang es ihm, bis ins Totenreich vorzudringen, und siehe da, der Klang seiner Musik stimmte selbst die rachsüchtigen Schicksalsgöttinnen milde. Der gestrenge Gott des Hades, besänftigt durch die wunderbaren Töne, gewährte ihm seine Bitte, seine Frau aus dem Totenreich zurückzuholen. Unter einer Bedingung: Orpheus, so die Bedingung, durfte sich nicht umdrehen, geschehe, was da wolle. An diesem rückhaltlosen Vertrauen scheiterte er buchstäblich im allerletzten Augenblick. Kurz vor dem Schritt in die Freiheit von Angst und Zweifeln heimgesucht, schaute er sich entgegen der Abmachung nach Eurydike um und musste allein in die Welt zurückkehren. Nach einer Zeit des Kummers und der Einsamkeit wurde er schließlich von den Göttern auf die Insel der Seligen entrückt und mit seiner geliebten Frau wiedervereinigt.

Wir alle sind wie Orpheus: von namenlosem Schmerz gezeichnet, mit der himmlischen Musik der Vergebung begabt und mit schwankendem Vertrauen auf dem Weg der Erlösung unterwegs. Diese griechische Sage von der Suche nach der scheinbar verlorenen Liebe und der besänftigenden Macht einer überirdischen Musik, durch die alle Gefahren auf dem Weg überwunden werden, lässt mich an eine Kursstelle denken. Es sind die Hindernisse vor dem Frieden im 19. Kapitel des Textbuchs. Der Abschnitt beschreibt den inneren Prozess, den wir auf dem Weg der Befreiung vom Ego – unserer unbewussten Identifikation mit einem aus Hass, Schmerz und Todesangst gemachten falschen Selbst – durchlaufen. Er handelt davon, dass alle Hindernisse, die sich vor uns aufzutürmen scheinen, wie bei Orpheus‘ Gesang dahinschmelzen, wenn wir der freundlichen Macht der Vergebung vertrauen. Denn sie alle, so erfahren wir, sind nichts anderes als Manifestationen eines einzigen Hindernisses: unserer Nichtvergebung unserem Selbst gegenüber, unseres ultimativen Wunsches, mit unserer Version von uns selbst um jeden Preis rechtzuhaben.

Dieser beeindruckende Abschnitt führt uns Schicht um Schicht durch unsere Erfahrungen in der Zeit – Ärger, Lust/Schmerz und Tod –, die das psychophysische Leben charakterisieren und einen konstanten Frieden unmöglich machen bis hin zu ihrem dunklen und zeitlosen Fundament. Es ist dieses vierte und letzte Hindernis vor dem Frieden (»die Angst vor Gott« T-19-D), das alle anderen Hindernisse unüberwindlich erscheinen lässt. Dieses Hindernis ist der Hass des Ego auf die Wahrheit, in der es nicht existiert: auf Gott und Christus, unsere Wesensnatur der Liebe jenseits von Geburt und Tod.

»Gott [die Erinnerung an die Liebe] möge hier nicht eintreten, wiederholen die Kranken [zu denen wir uns alle zählen dürfen] immer von neuem, während sie ihren Verlust beklagen und sich doch an ihm erfreuen« (P-2.VI.1:4). Doch mit diesem depressiven Gesang des Ego sind die Wenigsten vollauf in Kontakt, was es unmöglich macht, eine Verbindung zwischen dem unbewussten Rechthabenwollen und der Aufregung über unsere äußeren Erfahrungen herzustellen.

Aus diesem Grund heißt es im Kurs: »Heilung geschieht, wenn ein Patient beginnt, das Klagelied zu hören, das er singt, und seine Gültigkeit infrage stellt. Solange er es nicht hört, kann er nicht verstehen, dass er es ist, der es sich selber vorsingt. Es zu hören ist der erste Schritt zur Gesundung. Es infrage zu stellen, muss er dann beschließen« (P-2.VI.1:4). Dieser zeitweise turbulente Prozess, der Vertrauen und Bereitwilligkeit voraussetzt und Widerstand heraufbeschwört, ist das, was im Kurs unter Vergebung oder Heilung verstanden wird. Neben unserem gewöhnlichen Blick auf das Leben tut sich für Momente ein neuer Blick auf, eine sanfte Ahnung von der tiefen Sehnsucht aller Wesen nach ihrer unschuldigen Identität jenseits aller Egoträume.

Um ebendiesen Blick geht es in den Hindernissen vor dem Frieden. Schicht um Schicht wird uns die eigentliche Natur unserer Identifikation mit unseren weltlichen Erfahrungen und Ängsten bis hin zur Angst vor dem Tod enthüllt. Unsere Sinneserfahrungen, so unüberwindlich sie im Rahmen unseres gewöhnlichen Blicks erscheinen, werden ganz neu verständlich, wenn wir sie vor dem Hintergrund des Fundaments sehen, auf dem sie stehen: »Diese Zeugnisse, die die Sinne herbeibringen, haben nur einen Zweck: Sie rechtfertigen den Angriff und verhindern, dass die Nichtvergebung als das erkannt wird, was sie ist. Wird sie ohne Verkleidung gesehen, ist sie unerträglich. Ohne Schutz könnte sie nicht andauern« (P-2.VI.4:1). Ärger, Schmerz/Lust und Tod haben es uns angetan. Ein Leben des Ärgers und des Schmerzes aufgrund der ungerechten Behandlung, die uns von Geburt an zuteil wurde, bei dem der Tod schließlich für Ruhe und den letzten Triumph der Ungerechtigkeit sorgt, ist eine Wahrnehmung, die eine beträchtliche Anziehung auf uns ausübt. Das sind unsere Egoträume, mächtige Symbole für das Denksystem des Ego, das als verborgene Quelle dahinter steht. Wir hassen und fürchten sie ebenso, wie wir sie wünschen, solange wir ihrer Quelle Wert beimessen und diese nicht infrage stellen wollen. Das ist die Einsicht, die uns der Kurs lehrt.

Insofern ist es nicht erstaunlich, dass das, was wir einerseits zu Recht beklagen und verdammen – eine Welt der Kriege und der Konflikte, des Schmerzes und des Todes – andererseits etwas ist, was uns auf einer tieferen Ebene anzieht, weil es Zeugnis für die Rechtmäßigkeit unseres Geisteszustands, für die Wahrheit unseres getrennten, besonderen Selbst, ablegt.

Es ist unmöglich, unsere Sinneswahrnehmungen zu verleugnen. Es ist jedoch möglich, uns zu fragen, ob wir an dem unbewussten Zweck festhalten wollen, in deren Dienst sie stehen: unsere Nichtvergebung zu behalten. Das eröffnet uns einen Weg, »normal« mit Situationen umzugehen, ohne zu verdrängen und ohne auf Dauer stecken zu bleiben.

Ärger, Schmerz und Tod bis hin zur Angst vor Gott sind Gedanken des nichtvergebenden Geistes und mächtige Anziehungskräfte, die uns in unserem Traum Identität geben. Sie sind »narrensicher«, sprich: unüberwindlich im Traum der Körper. Sie sind aber nicht »gottsicher« (T-5:X.6:5), sprich: nicht unüberwindlich für den Geist. Das Mittel, um an ihnen allen unbeschadet vorüberzugehen, ist die wachsende Einsicht und Dankbarkeit, dass wir uns irren. Die Sage von Orpheus macht bildhaft deutlich, dass jedes vermeintliche Hindernis vor der Sanftmut der himmlischen Musik kampflos zerfällt, nicht unbedingt äußerlich, aber innerlich. Diese Himmelsmusik der Vergebung ist unser aller Erbe, auch wenn wir noch schwanken und es oft vorziehen, in die Kleinheit unseres Klagelieds zurückzufallen, eine große Versuchung, der wir alle unterliegen.

Vor dem Lied der Vergebung, das von der überirdischen Schönheit und Sanftmut kündet, die in niemandem verloren gehen kann, verbeugen sich alle Geschöpfe voller Dankbarkeit, weil sie darin ihre Wahrheit wiedererkennen, nach der sie sich sehnen. Und so heißt es im Kurs: »Du kennst das alte Lied und kennst es gut. Nichts wird dir je so lieb sein wie dieser alte Lobgesang der Liebe, den der Sohn Gottes immer noch für seinen Vater singt. Und nun können die Blinden sehen, denn dasselbe Lied, das sie zu Ehren ihres Schöpfers singen, preist auch sie. Die Blindheit, die sie machten, wird der Erinnerung an dieses Lied nicht widerstehen. Und sie werden auf die Schau des Gottessohnes blicken und sich erinnern, wer er ist, von dem sie singen. Was ist ein Wunder, wenn nicht diese Erinnerung? Und wen gibt es, in dem diese Erinnerung nicht liegt?« (T-21.I.9:5-10:5).

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